Das Thema des ersten literarischen Salons in diesem Jahr war: Wundertüte.

Zum Ende hin wurde aus allen Vorschlägen des Tages DAS Thema des nächsten Salons gezogen:

BRIEFE!


In der Einladung hieß es: »Wundertüte??? Was soll das, wird sich der eine oder die andere fragen. – Wir laden dazu ein, daß jeder sich ein Thema für ein kommendes Treffen des literarischen Salons ausdenkt und zu diesem Thema einen Text vorstellt. Wir werden dann aus diesen Vorschlägen das Jahresprogramm zusammenstellen. Wir sind gespannt auf Ihre und Eure Ideen!


• Ein Vorschlag kam von einem Besucher, der an dem Termin selbst verhindert war. Uns erreichte folgende Notiz. Es soll also um ›Briefe‹ gehen.

• Als erster Text wurde ›A Modern Utopia‹ von H.G. Wells vorgeschlagen. Wells, ein Pionier der Science-Fiction-Literatur, beschäftigte sich mit der Frage, wie Menschen es schaffen könnten, eine friedliche, menschengerechte Zukunft zu gestalten. In seinen Arbeiten geht es nicht um triviale, technische, krachige Spektakel – kein StarWars. Als Thema zukünftiger Salons steht ›Gesellschaftliche Utopien‹
A Modern Utopia (1905): »Die Straßen unserer Utopie sind still. Keine Hast, kein Hupen der Wagen, kein Geschrei der Händler.Die Menschen gehen gemessen ihrer Wege – wie Spieler auf einem Schachbrett, deren Züge wohlbedacht sind. Sie eilen nicht, denn sie haben Zeit. Sie raffen nicht, denn sie haben genug. Die Luft ist rein. Die Flüsse sind klar. Der Himmel wölbt sich hoch und blau, ohne Rauch, ohne Schmutz. Häuser stehen frei und freundlich zueinander. Sie sind gebaut nicht nur zum Wohnen, sondern zum Leben – mit Fenstern, die das Licht hereinrufen, mit Gärten, die die Erde ehren. … Und so wächst in dieser Welt nicht nur das Wissen, sondern auch die Weisheit – still, stetig, Tag für Tag. …«


• Das nächste vorgeschlagene Thema ist ›Bloomsbury‹. Das von Christine Frick-Gerke herausgegebene Buch ›Inspiration Bloomsbury‹ führt in den Kreis um Virginia Woolf ein. Ein bunter Überblick: Britische Kulturgeschichte im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Junge Maler, Literaten und Intellektuelle im Londoner Stadtteil Bloomsbury erproben neue Formen des Lebens und der Kunst, jenseits aller Konventionen. Sie lebten miteinander eine Art konkrete Utopie aus. Texte verweisen auf Texte und auf Themen, von Wells zu Woolf.
Virginia Woolf, Kew Gardens: »An die hundert Stengel streckten sich aus dem ovalen Blumenbeet empor, spreizten auf halbem Weg herz- oder zungenförmiges Blattgrün und öffneten an der Spitze erhaben betupfte rote, blaue oder gelbe Blütenblätter. Dieser roten, blauen oder gelben Glut der Kehle entsprang ein kerzengerader, dick goldbestäubter Grif-fel samt Blütennarbe. Die Blütenblätter waren groß genug, um sich in der leichten Sommerbrise zu regen, und wenn sie das taten, legten die roten, blauen und gelben Lichter sich übereinander, sodass auf dem Erdenbraun darunter ein unendlich vielschichtiger Farbfleck entstand. Das Licht fiel bald auf den glatten grauen Rücken eines Kiesels, bald auf ein braun geädertes Schneckenhaus oder erfüllte, wenn es in einem Regentropfen landete, die hauchdünne Wasserkuppel mit einem so satten Rot, Blau oder Gelb, dass man glaubte, sie würde davon zerspringen. Stattdessen jedoch blieb der Tropfen schon im nächsten Moment wieder silbergrau zurück, weil das Licht sich jetzt auf das Fleisch eines Blattes legte, die verzweigten Äderchen im Innern zum Vorschein brachte und gleich darauf weiterzog und seinen Schein unter dem weitläufigen Gewölbe des herz- und zungenförmigen Blattgrüns ausbreitete. Als dann die Brise etwas stärker ging, wurde das farbige Leuchten emporgesandt, in die Augen der Männer und Frauen, die im Juli durch die Kew Gardens spazieren. …«


• Der Text von Woolf zeigt ebenfalls, daß in der Literatur ein Buch auf das nächste verweist, ein Thema ein Folgethema in sich trägt. Denn als nächstes wurde vorgeschlagen ›Regen‹. Kästners Gedicht ›Der Regen regnet sich nicht satt. …‹ und die Klärung des Begriffs Petrichor standen am Anfang. Petrichor, der charakteristische Duft, der nach Regen auf trockener Erde oder Stein wahrnehmbar ist.
Karin Schmidt-Friderichs, aus: ›Regen – Eine Liebeserklärung an das Wetter wie es ist‹: »Es regnet wirklich und ja, die Erde wird nass. Sehr. Neben mir tapst meine kleine Enkelin. Ihre warme Hand hält meine kalte. Sie hüpft vor Freude. In jede noch so kleine Pfütze. Ich ziehe Hosenbeine, Mantelkragen und tatsächlich auch die Schultern hoch und höher. Die Menschen, die uns entgegenkommen, sehen ähnlich verspannt aus. Schietwetter. Meine kleine Enkelin singt. Eine helle, klare Stimme. Sie singt laut – ›und wenn’s genug geregnet hat, dann hört’s auch wieder auf‹. Die Gesichter der Menschen entspannen sich, wenn sie in Hörweite kommen. Schmunzeln. Lächeln. Summen. Meine kleine Enkelin stapft und hüpft und platscht und versucht, mit der Zunge einen Regentropfen aufzufangen. Wann wurden wir aus dem Wetterparadies vertrieben, in dem Regen Spaß macht? In dem die Zuschreibung ›schlechtes Wetter‹ einfach nicht existiert. …«


›Das Leben in der Gesellschaft‹, das Leben mit anderen‹ war ein weiterer Vorschlag. In dieses Thema wurde mit Auszügen aus Marcel Prousts ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ eingeführt, einer fiktionale Autobiographie, die die Erinnerungen des Ich-Erzählers an sein Leben schildert. Die Romanfolge entfaltet ein großes Gesellschaftspanorama im Paris des Fin de siècle. Der Arzt Dr. Cottard spielt in dem siebenbändigen Roman eine wichtige Rolle.
»Dr. Cottard, der für gewöhnlich ebenso verstummte, sobald er in Gesellschaft war, wie er im Hörsaal beredt war, saß da, den Blick abwesend und starr, als würde er eine schwierige Diagnose stellen. … Dr. Cottard, der vom Theater nichts verstand und seine eigenen Maßstäbe anlegte, bewunderte mit lauter Stimme die ›gute Haltung‹ eines Schauspielers oder die ›schönen Lungen‹ eines Sängers, wobei er zu seiner Umgebung sprach, als ob er sich im Hörsaal befände.« Über Sarah Bernhard sagt er: » ›Sie hat eine sehr gute Stimme,‹ erwiderte Dr. Cottard, ›eine Stimme, die sich gut für Vorträge eignen würde, selbst für medizinische Vorträge.‹ ›Ach, Cottard!‹ rief Madame Verdurin lachend, ›Sie sehen immer nur das Praktische! Und wie finden Sie sie als Schauspielerin?‹ ›Oh, ich bestreite ihr Talent durchaus nicht,‹ sagte Dr. Cottard. ›Aber sie scheint mir anämisch zu sein. Ihre Blässe, die Schwäche ihrer Gliedmaßen, ihre Heiserkeit sind deutliche Symptome.‹ ›Das ist ja ganz entzückend,‹ rief Madame Verdurin. ›Er sieht nie das Spiel, nie die Kunst, sondern immer nur die Krankheit! Statt zu sagen: Was für eine Stimme! sagt er: Was für schöne Bronchien!‹ Die übrigen Gäste lachten, Cottard aber, von Natur aus unfähig, Ironie oder Spott zu begreifen, verbeugte sich leicht, geschmeichelt durch das, was er für ein Lob hielt.«


• Petrichor, der Duft nach einem Regen wurde schon erwähnt. Ein weiteres vorgeschlagenes Thema war ›Düfte‹. Der ausgewählte Text hätte jedoch auch das Thema gesellschaftliches Leben abgedeckt, denn es wurde gelesen aus Thomas Manns ›Buddenbrooks: Verfall einer Familie‹. In diesem Roman wird nämlich erzählt vom allmählichen, sich über vier Generationen hinziehenden Niedergang einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Lübeck, von der gesellschaftlichen Rolle und Selbstwahrnehmung des Großbürgertums.
»Der kleine Johann war gehalten, sich von der sterblichen Hülle seiner Großmutter zu verabschieden; sein Vater ordnete dies an, und er ließ keinen Laut des Widerspruches vernehmen, obgleich er sich fürchtete. … Wie beim weihnachtlichen Einzuge war ihm der große Raum entfremdet, als er ihn am Tage vorm Begräbnisse zwischen Vater und Mutter von der Säulenhalle aus betrat. … Und umgeben von seinen ganz in Schwarz gekleideten Anverwandten, den breiten Trauerflor um den Ärmel seines Matrosenanzuges, den Sinn umnebelt von den Düften, welche den Mengen von Blumengebinden und Kränzen entströmten, und mit denen sich, ganz leise und nur bei diesem oder jenem Atemzug bemerkbar, ein anderer, fremder und doch auf seltsame Art vertrauter Duft vermengte, stand der kleine Johann zur Seite der Bahre und blickte auf die regungslose Gestalt, die vor ihm zwischen weißem Atlas streng und feierlich ausgestreckt lag ... Dies war nicht Großmama. Es war ihre Gesellschaftshaube mit den weißseidenen Bändern und ihr rotbrauner Scheitel darunter. Aber diese spitze Nase, diese nach innen gezogenen Lippen, dieses hervorgeschobene Kinn, diese gelben, durchsichtigen, gefalteten Hände, denen man Kälte und Steifheit ansah, gehörten nicht ihr. Dies war eine fremde, wächserne Puppe, die in dieser Weise aufzubauen und zu feiern etwas Grauenhaftes hatte. … Er atmete langsam und zögernd, denn bei jedem Atemzuge erwartete er den Duft, jenen fremden und doch so seltsam vertrauten Duft, den die Wolken von Blumengerüchen nicht immer zu übertäuben vermochten. Und wenn er kam, wenn er ihn verspürte, so zogen sich seine Brauen fester zusammen, und seine Lippen gerieten einen Augenblick in zitternde Bewegung. Schließlich seufzte er; aber es klang so sehr wie ein tränenloses Schluchzen, daß Frau Permaneder sich zu ihm niederbeugte, ihn küßte und ihn fortführte. …«


    •    Die Grundlage der Buddenbrooks war Thomas Manns eigene Familiengeschichte, also leitete dieser Text gleichsam wie von selbst zum nächsten vorgeschlagenen Thema ›Autobiographien‹. Vorgestellt wurde ein Auszug aus Wilhelm von Kügelgens ›Jugenderinnerungen eines alten Mannes‹, ein einstmals weit verbreitetes Werk, erschienen 1922 in der 230. Auflage. Aufgrund der lebensnahen Schilderungen haben diese jedoch heute noch kulturhistorischen Wert und lassen sich allerliebst lesen.
»Unsere künstlerische Tätigkeit beschränkte sich übrigens nicht bloß aufs Zeichnen, wir schnitzten auch aus Holz und kneteten allerlei Gelungenes aus buntem Wachs. Endlich machten wir auch Papparbeiten und verfertigten überhaupt fast alle unsere Spielsachen selbst nach Anleitung des Lehrers, der sehr richtig urteilte, daß eben dieses Anfertigen das beste bei der Sache sei. Das Genußreichste, was Senff uns lehrte, war die Kunst, gewisse kleine, trianguläre Gestalten, sonst Krähen genannt, aus Papier zu falten, bei deren Anfertigung jedoch der letzte vollendende Bruch so schwierig war, daß er gar nicht gelehrt werden konnte; es mußte einem vielmehr wie zum Verständnis der Schellingschen Identitätsphilosophie erst eine glückliche intellektuelle Anschauung kommen oder, mit anderen Worten, ein großer Seifensieder aufgehen, ehe man es vermochte, die sorgfältigst vorbereitete Krähe durch jene letzte schöpferische Quetschung zu vollenden. Diese Vollendung pflegten wir daher geraume Zeit hindurch dem Altmeister Senff zu überlassen, bis wir endlich selbst, einer nach dem andern, hinter die Schliche kamen. „Kannst du schon den letzten Bruch machen?" – das war lange die brennende Tagesfrage unter uns, während es uns doch ganz einerlei war, ob einer schon die fünfte Deklination konnte oder nicht.«


• Von den selbstgefertigten Spielzeugen schien es nur natürlich, auf den letzten Themenvorschlag des Salons zu kommen, ›Kinderspielzeug‹. In Urs Widmers ›Ein Leben als Zwerg‹ erzählt ein Gummizwerg. Er erinnert sich, wie er von dem kleinen Jungen Uti, Urs Widmer als Kind, in einem Spielzeugladen ausgesucht und von dessen Mutter gekauft worden war. Die Figur begleitet Widmer durch sein gesamtes Leben. In den letzten Jahren steht er auf einem Regalbrett im Arbeitszimmer und sieht dem älter werdenden Schriftsteller bei der Arbeit zu.
»Ich heiße Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter groß und aus Gummi. Hinten, so etwa im Kreuz, hatte ich einmal ein rundes Etwas aus Metall, und wenn mir jemand, ein Mensch mit seinen Riesenkräften, auf den Gummibauch drückte, pfiff es. Pfiff ich. Das Metallding ist aber längst von mir gefallen, und ich pfeife nicht mehr. Die Menschen – die Kinder der Menschen vor allem – denken, ich sei ein Spielzeug. Ein Spielzwerg. Sie haben recht, aber sie kennen nur die halbe Wahrheit. Wenn ein Menschenblick auf einen von uns fällt, auf einen Zwerg, wird er steif und starr und ist gezwungen, in der immer selben Haltung zu verharren. Eine Lebensstarre, die jeden von uns so lange beherrscht, als Menschenaugen auf uns ruhen. Sie überfällt uns eine Hundertstelsekunde bevor der Blick uns erreicht und verläßt uns ebenso sofort, wenn der Mensch wieder woandershin blickt. Ich habe dann die Arme am Körper wie in einer etwas nachlässigen Habtachtstellung und mache ein dummes Gesicht. Mein Mund steht offen, und meine Augenlider sind bis über die Mitte der Iris gesenkt. Wenn aber niemand schaut, sind wir Zwerge äußerst fix. Wir können wie Irrwische durch Wohnungen sausen, Tischbeine hinauf, Tischbeine hinunter, wir gehen die glatten Wände hoch, wenn es sein muß. Es kommt vor – es ist vorgekommen –, daß uns ein Menschenblick trifft, wenn wir an einem Ort sind, an den wir ganz und gar nicht gehören. Dann erstarren wir eben dort, wir können ja nicht anders, und die Menschen betrachten uns nachdenklich und kratzen sich am Kopf und tun uns in die Spielzeugkiste zurück. Aber dann vergessen sie den Vorfall wieder, Zwerge sind nicht so wichtig für Menschen. – Zwerge sind unsterblich. Es soll welche geben, die tausend und zehntausend Jahre alt sind. Ja. Wir essen nicht, wir trinken nichts. Nichts rein, nichts raus, das ist unser Überlebensgeheimnis. Wir sind unsterblich: aber wir zerbröseln. …«


Es wurden im Salon, wie immer, eine Reihe weiterer Texte angesprochen, vorgestellt. So ist es, wenn sich alle zwei Monate eine Gruppe von Lesefreundinnen, Buchfanatiker, Literatur-Begeisterte trifft.

Zum Ende hin wurde aus allen Vorschlägen des Tages DAS Thema des nächsten Salons gezogen:

BRIEFE!